Ich saß an einem alten Holztisch, der an mehreren Stellen Risse und Kerben aufwies, ganz sicher hervorgerufen von den vielen Mahlzeiten, die Familie Zeder bereits an ihm verbracht hatte. Vor mir stand ein Becher mit dampfendem Kaffee, der einen angenehmen Geruch verströmte. Die Stimmung war jedoch gar nicht angenehm. Mir gegenüber saß die alte Frau, noch die Spuren der Tränen im Gesicht, die sie bei meinem Anblick vergossen hatte. Nun war ihr Blick fester, aber nicht weniger leer, fast schon beängstigend dieser starre Blick, der nun auf mich gerichtet war, mich durchdrang wie ein eiskalter Dolch.
Ich kannte Frau Zeder, ich war oft mit der Tochter draußen spielen gewesen und wurde immer warm und herzlich empfangen, wenn ich mal wieder durch das Gartentor kam, um Tiana, die Tochter des Hauses, abzuholen und mit ihr zum Bach zu gehen. Wir waren lange Zeit unzertrennlich, außer ihr gab es auch kaum Kinder in meinem Alter im Ort und die, die es gab, zog es nicht nach draußen in den Wald, sondern eher ins Zimmer, die einen vor trockene Bücher, die das beschrieben, was ich erlebte, die anderen vor Konsolen, an denen sie die Fantasien anderer Menschen durchlebten, anstatt sich ihre eigenen aufzubauen. Tiana war anders. Sie liebte die Umgebung genau wie ich und war ebenso leicht zu begeistern, wenn man vorhatte neue Teile des Waldes zu durchstöbern oder sich am Bachufer ins Gras zu werfen und sich der Geräusche der Natur hinzugeben. Wir waren unzertrennlich. Frau Zeder war immer fröhlich und anders als meine Mutter weit freigiebiger. So musste sie immer schmunzeln, wenn wir zwei verdreckt vorbeikamen, nicht selten von Regen durchnässt oder durch Kälte am Frösteln. Sie hatte immer einen Tee auf dem Tisch stehen, als könnte sie vorhersagen, wann wir des Tobens und Lauschens überdrüssig wurden und uns nach einer warmen Stube zur Pause sehnten. Es war eine vergnügliche Zeit, die nur selten getrübt wurde und doch zerbrach.
Ich konnte die Kälte jener Tage spüren, als ich der alten Frau nun nach all der Zeit wieder gegenüber saß und ihr die Furchen ansah, die all die Jahre in ihr Gesicht gegraben hatten. Ich war mir sicher, dass sie Fragen hatte, ebenso wie ich meine hatte, doch wir schwiegen beide, sie mit harter fordernder Trauer im Gesicht und ich mit Zügen geradezu lebensverachtender Gleichgültigkeit. Es war nur zu offensichtlich, dass ich es sein musste, der seine Fragen stellt, dass ich mich zu erklären hatte, nicht die Frau, die jahrelang aufopfernd mein Leben begleitet hatte, ähnlich meinen Eltern, sondern ich, der junge Mann, der vor 10 Jahren einfach fortging und seitdem nicht ein Zeichen von sich gab, einfach seine Existenz vor den Menschen verbarg, die an dieser egoistischen Entscheidung unweigerlich zerbrechen mussten. Doch die Fragen, die sich mir aufdrängten waren keineswegs Fragen, die man hätte erwarten können, sondern Fragen, die in dieser Situation eher verschwiegen werden sollten, um nicht den letzten Funken in den Augen der gebrochenen Frau erlöschen zu lassen. Ich schwieg weiter und so verstrich die Zeit, während sich der kalte Blick tiefer und tiefer in meine Seele grub. Nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille, die nur durch das gelegentliche Schlürfen des Kaffees unterbrochen wurde, war es unausweichlich einer Konversation aus dem Weg zu gehen, da die alte Frau Zeder langsam ihre Stimme erhob und im Hinblick auf ihren schwachen leeren Blick erstaunlich gefestigt ihre Worte hervorbrachte, die wie schon in alter Zeit klug und präzise gewählt waren. Die Fragen waren einfach, schon von mir erwartet, ihr Inhalt, ihr Wesen war aber dennoch nicht minder fordernd und zurückweisend, wenngleich der Ton eine gewisse Wärme zu enthalten schien, wie er es früher schon war. Die Fragen richteten sich schlicht auf das, was mich wohl jeder in ihrer Situation gefragt hätte. Wieso ich gegangen sei, was mich zur Rückkehr bewog und weshalb ich mich nie gemeldet hätte, wenn ich doch sowieso zurückzukommen gedachte. Sie hielt mir vor nicht an die Gefühle der Menschen gedacht zu haben, die mir sehr nahe standen und bedachte mich mit einem heftigen Blick, als sie anstatt meiner Eltern Tiana zur größten Leidtragenden ernannte, was mich für einen kurzen Moment erstaunte. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken, war es doch nicht unerwartet genug, die Fragen schon gar nicht, doch dennoch waren sie eindeutig, direkt und für mich zwar leicht, aber unmöglich zu beantworten, also schwieg ich weiter. Frau Zeder schien das nicht groß zu überraschen, doch sie lehnte sich nicht gegen mein Verhalten auf, sie schien es als Beweis für etwas zu nehmen, mir war klar für was, doch es mir einzugestehen würde alles nur komplizierter machen. Die alte Frau sah mich weiter unentwegt an und stellte nun nach einer weiteren stummen Phase eine weitere Frage, die mich etwas unvorbereiteter traf. „Was hast du nun vor?“ Ja, das war eine Frage, die ich mir nicht einmal selbst gestellt hatte, obwohl sie offensichtlicher Natur war, eine Frage, die ich schon von Anfang an hätte stellen sollen, damit ich nicht umherirre, wie ich es tat. Ich hatte keine direkte Antwort darauf, doch zu schweigen gedachte ich dieses Mal nicht, da es mir aus irgendeinem Grund schwerer fiel mich zu verschließen als zuvor, als wäre etwas in mir umgesprungen nach dieser simplen Frage. Doch was konnte ich, was wollte ich antworten? Ich hatte eine Frage, doch diese war nicht als Antwort zu gebrauchen, so nutzte ich eine Phrase, die mir nicht komplett wie eine Lüge schien, doch ebenso klar nicht die Wahrheit war. „Ich habe vor mich meinen Eltern zu stellen.“ Eine simple Antwort, einfach, nicht absurd und doch schien sie weit komplizierter und absurder zu sein, wenn man wusste, was in mir vorging oder in welchem Tonfall der Satz über meine Lippen ging. Die Antwort, die ich erwartete, kam jedoch nicht. Es kam kein ermahnender Satz, kein erboster Blick, der auf meine gleichgültige Antwort mit stechender Kälte reagierte, sondern stattdessen trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, wie ich ihn früher gesehen hatte, der Ausdruck, der schon verriet, dass ich etwas zu erwarten hatte, was meine Gleichgültigkeit trotz all ihrer Macht aus den Fugen heben konnte.
Die alte Frau sah mit belebterem Blick als zuvor in meine Augen und erwiderte mit leichter, freundlicher, aber bestimmter Stimme etwas Simples mit großer innerer Kraft.
„Deine Eltern sind bereits vor zwei Jahren verstorben.“